Gib uns Deine Heimat! Wie das Museum Europäischer Kulturen Heimaten sammelt
Als Innenminister Horst Seehofer im März 2018 sein „Heimatministerium“ ins Leben rief, war für die MitarbeiterInnen des MEK klar: Die Museen müssen sich an der Diskussion um den Begriff „Heimat“ beteiligen. Sie fragten ihre Besucherinnen und Besucher – was dabei herauskam, weiß die wissenschaftliche Mitarbeiterin Judith Schühle.
Text: Judith Schühle
Der Begriff „Heimat“ ist ziemlich einzigartig – zumindest wenn man sich andere europäische Sprachen anschaut. Da mag es zwar den Begriff „Zuhause“ oder „Vaterland“ geben, aber eine wirkliche Übersetzung für „Heimat“ sucht man oft vergeblich. In Deutschland verbinden sich mit dem Begriff wegen seiner politischen Instrumentalisierung in der Geschichte nicht nur positive Gefühle.
Ganz ursprünglich bezeichnete das mittelhochdeutsche Wort „heimuot“ schlicht den Ort, an dem eine Person geboren war und wo jemand Rechte und Pflichten hatte. Erst durch die Industrialisierung und die damit verbundene Migration aus ländlichen Regionen in die Städte, fing man im 19. Jahrhundert an, von „Heimat“ zu sprechen: Viele neuzugezogene Städterinnen und Städter, aber auch Menschen, die wegen Hunger und Armut nach Amerika auswanderten, gründeten Heimatvereine. Dort trafen sie sich mit Gleichgesinnten, hielten Traditionen lebendig oder schufen sogar neue. Heimat wurde vom Blickpunkt ihrer neuen Umgebung aus zu etwas Bedrohtem, das es zu schützen galt. Auch die Natur, die unter der Industrialisierung litt, hatten Heimatschützer im Auge.
Romantisiertes Heimatbild
So romantisierte das Heimatbild um 1900 die Natur und das Leben auf dem Land. An den Nationalstaat geknüpft war Heimat dabei jedoch nicht. Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg. Nun grenzte man „die deutsche Heimat“ gegenüber den anderen Staaten Europas ab. Die Nationalsozialisten schließlich, verknüpften den Heimatbegriff mit ihrer „Blut und Boden“-Ideologie und instrumentalisierten ihn, um gegen alles zu hetzen, was ihrer Meinung nach nicht Teil der Heimat war oder sein durfte.
Nach der Zeit des Nationalsozialismus distanzierten sich Intellektuelle und Politiker von diesem Heimatbegriff, der mit einem Nationalstaat verknüpft ist und mit Abstammung für Abgrenzung argumentiert. Nichtsdestotrotz flüchteten sich gerade nach den Kriegsjahren viele Menschen in die kitschigen Bilder sogenannter Heimatfilme und Heimatromane, die „Heimat“ als heile Welt, meist in den Bergen, inszenierten.
„Heimat ist draußen nur Kännchen!“
Der Begriff der Heimat spielt historisch gesehen immer dann eine Rolle, wenn Menschen sich vermeintlichen Bedrohungen ausgesetzt sehen. Heute scheint es vielen Menschen wieder wichtig, über Heimat zu sprechen. So ging es auch den Besucherinnen und Besuchern des MEK: Nachdem wir im April unseren Aufruf „Gib uns deine Heimat!“ gestartet hatten, füllten innerhalb von zwei Monaten über 200 Menschen in unseren Ausstellungen ausliegende Postkarten mit ihren Statements. Die Antworten auf die Frage, was Heimat bedeutet, sind sehr vielfältig. Viele Menschen sind sich bewusst, dass man Heimat häufig erst vermisst, wenn man sie nicht mehr hat. Heimat, so schrieb eine Person, ist „dort wo ich meine Kinder- und Jugendzeit verbracht habe“. Auch wenn es den Ort noch geben mag, so ist vor allem dieser Zeitraum mit besonderer Nostalgie verbunden.
Mit „Heimat – wo ich herkomme und wegwollte“, fasste eine andere Person wiederum zusammen, dass Heimat auch zwiespältig sein kann. So beschäftigte manche Besucherinnen und Besucher auch die Frage, ob Heimat etwas ist, das man hat oder hatte oder etwas, nach dem man permanent sucht. Die Sehnsucht nach einer fernen Heimat, die sich aber auch genauso umkehren kann, beschreibt folgender Kommentar: „Heimat liebst du, wenn du weit weg bist, und hasst du, wenn du da bist“.
Eine andere Person schreibt: „Heimat ist draußen nur Kännchen!“ und spielt damit ironisch auf diese kulturelle Eigenart in deutschen Cafés an. Mit „Heimat ist da, wo man Geheimwege kennt“, fasst eine Person zusammen, dass man einen Raum über einen langen Zeitraum kennenlernt, sich darin vertraut und heimisch fühlt und er so zur Heimat werden kann. Aber auch ein bestimmter Zeitraum, der an einen Ort gebunden ist, kann Heimat sein: „‚Memleket‘ (Heimat auf Türkisch) bedeutet für mich immer wieder die schönste Zeit des Jahres. Und die Rückkehr ist ebenso schön. Heimat für mich ist, wo man liebt und lebt!“
Viele Menschen, die Familienmitglieder und Freunde in verschiedenen Ländern haben, haben Schwierigkeiten, den Heimatbegriff an eine Nation zu knüpfen. Wenn überhaupt, so fassten unsere Besucherinnen und Besucher einen viel kleineren Raum als ihre Heimat auf, zum Beispiel „Berlin“. Andere betonten, dass sie sich an mehreren geografischen Orten zu Hause fühlen, nicht einheimisch, sondern „mehrheimisch“ sind, etwa im fränkischen Land und in Berlin.
Freiheit, Vertrauen und Geborgenheit
Auch wenn eine bestimmte Landschaft, ein vertrautes Gebirge oder der Blick auf das Meer heimatliche Gefühle auslösen können, so ist Heimat doch meist an zwischenmenschliche Beziehungen gebunden. Dies spiegeln auch die Antworten unserer Besucherinnen und Besucher wider. Für viele ist Heimat dort, wo ihre Familienmitglieder und ihre Freunde sind. „Ohne Freunde keine Heimat“, fasste es eine Person ganz knapp zusammen. Eine weitere Person fühlte sich beheimatet, wenn sie vertraute Stimmen hört, und sei es nur als Hintergrundgeräusch aus dem Nebenzimmer.
Heimat an Beziehungen zu Menschen zu knüpfen hat einen weiteren Vorteil, wie einige erläutern: Man kann selbst dort eine Heimat finden, wo man nicht geboren oder aufgewachsen ist. Sobald man an einem Ort Freunde findet, verstanden wird und Verständnis erfährt, hat man (wieder) eine Heimat. Heimat wurde von unseren Besucherinnen und Besuchern als etwas verstanden, dass einem durch Freundschaften und soziale Beziehungen gegeben wird, in denen man sich geborgen fühlt und sich gegenseitig vertraut. Gleichzeitig kann man Heimat auch anderen – Fremden – schenken, indem man sie aufnimmt und mit ihnen in Beziehung tritt.
Einige Besucherinnen und Besucher beschrieben Heimat auch als sicheren Ort, frei von Repressalien: „Heimat ist alles, wenn man Freiheit hat. In meiner Heimat gibt es sie leider nicht :(“, fasst eine Person zusammen. Heimat wird so zu einem Ort der Sehnsucht, an dem man in Freiheit und geschützt vor Gewalt und Ungerechtigkeit leben kann. Besonders Menschen, die ihre ursprüngliche Heimat verlassen müssen, weil dort Krieg oder Armut herrschen, suchen sich so eine neue Heimat, in der sie selbstbestimmt leben können und sich daheim fühlen.
Aus Heimat werden Heimaten
„Heimat ist, wenn ich die Augen schließe und am Geruch/Duft, Temperatur, Geräusche, Musik erkenne, dass ich zu Hause bin“, schrieb schließlich eine Person und fasst damit verschiedene Stimmen unserer Besucherinnen und Besucher zusammen. Melodien, der Klang einer Sprache, der Geruch einer bestimmten Mahlzeit, der Geschmack von sonnengereiften Früchten, der Blick auf eine bestimmte Landschaft. Solche Eindrücke verbinden viele Menschen mit positiven Gefühlen, aus denen sich ihre individuellen Vorstellungen von Heimat speisen. Heimat an das Innenministerium eines Nationalstaates zu knüpfen, scheint da eher als verzweifelter Versuch, die ganze Vielfalt der Bürgerinnen und Bürger in ein enges Schema zu pressen: „Der Bayer“ wird eine andere Landschaft als heimatlich empfinden als „die Nordfriesen“. Deutschland riecht, schmeckt nicht nach etwas bestimmtem, stattdessen riecht und schmeckt Heimat für jeden anders.
Die Antworten unserer Besucherinnen und Besucher zeigen: Fast keine Heimat gleicht der anderen. Einige Menschen haben gleich mehrere Heimaten. Die Mehrstimmigkeit von Heimat drückt sich am besten im Plural des Wortes aus. Wie wäre es, zukünftig nicht mehr von „Heimat“ sondern von „Heimaten“ zu sprechen?
Vielfältige Stimmen von Besucherinnen und Besucher stellt das MEK jeden Sonntag unter #HEIMATENmuseum auf seiner Facebookseite vor. Bis Ende August 2018 ist eine Auswahl der Heimaten auch in der Sammlungspräsentation „Kulturkontakte. Leben in Europa“ zu sehen.
Titelbild: © Staatliche Museen zu Berlin, Museum Europäischer Kulturen / Christian Krug
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