Mesopotamien: Die Stellung der Frau vor 3000 Jahren
Lesezeit 6 Minuten
Eine neue Vitrine in der Dauerausstellung des
Vorderasiatischen Museums enthält eine in Keilschrift geschriebene
Tontafel über die rechtliche Stellung von Frauen vor 3000 Jahren. Die
Präsentation ist ein Experiment: Wir zeigen nur ein einzelnes Objekt und
stellen damit einen Bezug zur Gegenwart her.
Text: Juliane Eule
Während
die Keilschrifttafel, die wir in der neuen Vitrine im Vorderasiatischen
Museum ausstellen, Jahrtausende alt ist, schockierten uns die gerade
einmal 100 Jahre „jungen“ Forschungsbeiträge zum Thema viel mehr, als
der Keilschrifttext selbst. So verglich der österreichische
Rechtshistoriker Paul Koschaker 1922 in seiner rechtsgeschichtlichen
Einleitung zum Text unsere Tontafel mit älteren mesopotamischen
Rechtsurkunden und stellte fest:
„Die patriarchale Ehe ist also
gegenüber der muntfreien (Notiz der Verfasserin: munt = mhd.
„Vormundschaft“) Ehe im siegreichen Vordringen begriffen. Das ist nicht
als sozialer Rückschritt zu werten, etwa aus dem Gesichtspunkte, daß die
patriarchale Ehe die Frau in ein strenges Abhängigkeitsverhältnis zum
Manne bringt. Die vergleichende Soziologie der Ehe lehrt, daß häufig
lockere Eheformen die Vorstufe zur patriarchalen Ehe bilden. Der soziale
Fortschritt, den diese birgt, liegt darin, daß die ehe- und
hausherrliche Gewalt des Mannes, die mit eisernen Klammern die
Familienmitglieder zusammenhält, die Grundlage schafft zur Bildung der
Einzelfamilie, und so wird man die Ehe ohne Hausgemeinschaft des
Rechtsbuches eher als Überrest älterer primitiver Eheformen zu würdigen
haben.“
Wie bitte? Die „hausherrliche“ Gewalt des Mannes über seine Frau ist also als sozialer Fortschritt zu werten? „Lockere“ Eheformen, in denen die Frau dem Mann nahezu gleichgestellt ist, sind lediglich primitive Vorstufen der richtigen – patriarchalen – Ehe? Schon klar. Schauen wir doch mal, was unsere Tontafel dazu sagt.
Nachschlagewerk in Keilschrift?
Die
Tafel wurde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg von deutschen
Archäologen in der Stadt Assur (Irak) ausgegraben und stammt aus der
Regierungszeit des assyrischen Königs Tiglatpileser I. (1114–1076 v.
Chr.). Ob nach mesopotamischen Rechtstexten auch tatsächlich geurteilt
wurde, ist strittig. Doch diese Tafel wurde im Durchgang zwischen dem
Anu-Adad-Tempel und dem alten Palast, Assurs mutmaßlicher
Gerichtsstätte, gefunden. Es wäre also durchaus denkbar, dass der
Keilschrifttext hier beim Fällen von Urteilen als Nachschlagewerk
herangezogen wurde.
In jeweils vier Kolumnen auf Vorder- und
Rückseite werden insgesamt 59 Rechtsfälle und ihre Urteile aufgeführt,
von denen überwiegend Ehefrauen, Witwen oder Töchter betroffen sind. Die
folgenden Auszüge sollen einen Einblick in die Tafel geben.
Zum Inhalt des Gesetzestextes
In
Paragraph 40 wird sehr ausführlich erläutert, welche Frauen sich
verhüllen durften und wie eine unrechtmäßige Verschleierung zu bestrafen
war:
„Eine Konkubine, die mit ihrer Herrin auf einem Platze geht,
bleibt verhüllt. Eine Tempeldienerin, die mit einem Gatten verheiratet
ist, bleibt ebenfalls auf einem Platze verhüllt; eine, die nicht mit
einem Gatten verheiratet ist, trägt auf einem Platze den Kopf entblößt
und darf sich nicht verhüllen. Eine Dirne darf sich nicht verhüllen, ihr
Kopf bleibt entblößt. Wer eine verhüllte Dirne erblickt, soll sie
festnehmen, Zeugen stellen und sie zum Eingang des Palastes bringen.
Ihren Schmuck darf man nicht nehmen, aber derjenige, der sie
festgenommen hat, bekommt ihre Kleidung. Man soll ihr fünfzig
Stockschläge versetzen und Asphalt auf ihren Kopf gießen. Wenn dagegen
ein Bürger eine verhüllte Dirne erblickt, sie gehen lässt und sie nicht
zum Eingang des Palastes bringt, so soll man diesem Bürger fünfzig
Stockschläge versetzen. Sein Anzeiger bekommt seine Kleidung. Seine
Ohren soll man durchbohren, mit einer Schnur durchziehen und auf seinem
Hinterkopf zusammenbinden. Einen vollen Monat soll er für den König
Fronarbeit leisten. Sklavinnen dürfen sich nicht verhüllen. Wer eine
verhüllte Sklavin erblickt, soll sie festnehmen und sie zum Eingang des
Palasts bringen. Man soll ihr die Ohren abschneiden. Derjenige, der sie
festgenommen hat, bekommt ihre Kleidung.“
Verhüllung als Privileg
Demnach wurde
das Recht auf Verhüllung als Privileg betrachtet. Die Verschleierung war
das Symbol der privilegierten Stellung einer Frau. Diese Beobachtung
verfestigt sich im darauffolgenden Paragraphen:
„Wenn ein Bürger
seine Konkubine verhüllen will, so soll er fünf oder sechs seiner
Genossen Platz nehmen lassen, sie in ihrer Gegenwart verhüllen und
sagen: ‚Sie ist meine Gattin‘. Dann ist sie seine Gattin. Eine
Konkubine, die nicht in Gegenwart von Leuten verhüllt ist und von der
ihr Gatte nicht gesagt hat: ‚Sie ist meine Gattin‘, ist keine Gattin,
sondern nur eine Konkubine. Wenn der Bürger stirbt und Söhne seiner
verhüllten Gattin nicht vorhanden sind, gelten die Söhne von Konkubinen
als (legitime) Söhne und sie bekommen einen Erbteil.“
Auch hier
kommt die höhere Stellung der verschleierten Frau zum Ausdruck, sie wird
zur legitimen Ehefrau und erlangt dadurch mehr Rechte. Daneben zeigt
sich aber noch ein anderer Aspekt: Die Verhüllung kann nicht nur als
Privileg der Frau, sondern zugleich als Eigentumsvermerk des Mannes
betrachtet werden.
Dagegen zeigt sich hinsichtlich der
Eigentumsverhältnisse in den Paragraphen 34 und 35 ein vollkommen
ausgeglichenes Rechteverhältnis zwischen Mann und Frau:
„Wenn ein
Bürger eine Witwe heiratet und sie, obwohl kein Vertrag mit ihr
abgeschlossen ist, zwei Jahre in seinem Hause wohnt, so gilt sie als
Gattin und braucht nicht auszuziehen. Wenn eine Witwe in das Haus eines
Bürgers einzieht, so gehört alles, was sie mitbringt, vollständig ihrem
Gatten. Wenn dagegen ein Bürger bei einer Frau einzieht, so gehört
alles, was er mitbringt, vollständig der Frau“.
Abtreibung als Delikt
Einer der
letzten Paragraphen der Tontafel (Nr. 53) behandelt ein Thema, das bis
heute kontrovers diskutiert wird: die in vielen Ländern der Welt,
darunter Deutschland, noch immer bestehende Austragungs- und
Gebärpflicht:
„Wenn eine Frau aus eigenem Antrieb ihre
Leibesfrucht verliert, man es ihr beweist und sie überführt, so soll man
sie pfählen und sie nicht begraben. Wenn sie bei der Fehlgeburt stirbt,
so soll man sie pfählen und sie nicht begraben“.
Demnach war die
Abtreibung ein Delikt, das sehr schwer bestraft wurde. Noch heute ist
ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland eine Straftat, die allerdings
bis zum dritten Monat nicht geahndet wird. Es ist dieser
Aktualitätsbezug des Keilschrifttexts, der unsere Besucher*innen vor der
Vitrine innehalten lässt. Viele der Themen sind bis heute hoch aktuell,
wenn auch die Bestrafungen weniger drastisch ausfallen. Eine wahre
Gleichberechtigung in sämtlichen Lebensbereichen ist noch lange nicht
erreicht. Mitunter besteht sogar die Gefahr, dass bereits erkämpfte
Rechte wieder zurückgenommen werden. Damit gibt unsere Keilschrifttafel
nicht nur einen Einblick in die Lebenswirklichkeit assyrischer Frauen,
sie legt auch Zeugnis ab von einem Kampf, der mittlerweile seit
Jahrtausenden währt.
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