Im Museum Europäischer Kulturen in Dahlem zeigt die Ausstellung „Wir sind von hier“ Fotografien des deutsch-türkischen Lebens 1990 von Ergun Çağatay.
Text: Irene Bazinger
Es war der Schweizer Schriftsteller Max Frisch, der 1965 die Problematik in Sachen Gastarbeiter auf den Punkt brachte: „Man hatte Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.“ Darauf war die bundesrepublikanische Gesellschaft nicht vorbereitet gewesen, als am 30. Oktober 1961 das Deutsch-Türkische Anwerbeabkommen unterzeichnet wurde. Die Nachkriegswirtschaft brauchte dringend neue Leute, aber wie diese in der Fremde leben und nicht bloß arbeiten sollten, hatte niemand wirklich mitbedacht. Und so wurden sie zu marginalisierten Existenzen in einem Land, dessen Sprache sie nicht beherrschten und dessen Gepflogenheiten sie nicht kennen konnten.
Knapp dreißig Jahre nach dem Inkrafttreten des Anwerbeabkommens fuhr der türkische Journalist und Fotograf Ergun Çağatay (1937-2018) durch Deutschland, um herauszukriegen, wie sich die Lage der sogenannten Gastarbeiter inzwischen entwickelt hatte: „Das Ziel meiner Reise bestand darin, die soziale Integration beziehungsweise Nicht-Integration der zweiten Generation, die in Einwanderungsländern geboren oder aufgewachsen ist, zu zeigen.“ Zwischen März und Mai 1990 traf er sich in Hamburg, Köln, Werl, Duisburg und Berlin mit türkischstämmigen Menschen, besuchte sie an ihren Arbeitsplätzen, in ihren Geschäften und Moscheen oder bei ihren Feiern. In ausgedehnten Sequenzen, mit denen er sich an das jeweilige Motiv herantastete, hielt er sie mit mehreren Kameras im öffentlichen wie im privaten Raum fest. Seine über 3500 Fotos in Farbe wie in Schwarzweiß gelten als die umfangreichste Bildreportage zur türkischen Einwanderung in Deutschland.
Eine Auswahl mit über 110 Aufnahmen präsentiert die höchst eindrucksvolle, von Stefanie Grebe, Alexandra Nocke und Peter Stepan kuratierte Ausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“. Entstanden und zuerst zu sehen im Ruhr Museum auf Zollverein in Essen, ist sie jetzt im Museum Europäischer Kulturen zu bewundern. Im beschaulichen Dahlem lädt sie zu einem packenden Ausflug in Zeiten ein, in denen Fotos noch analog aufgenommen wurden, der Fall der Berliner Mauer noch ganz frisch war und es in der Bahnsteighalle des stillgelegten Jugendstil-Hochbahnhofs Bülowstraße in Schöneberg noch einen „Türkischen Basar“ gab – eine Art orientalische Shopping-Mall inklusive dem bundesweit bekannten Musiklokal „Gazino“. Ergun Çağatay hatte da schon für Agenturen wie APIS / Sigma, dann Associated Press oder Gamma, der ein paar Jahre lang auch Sebastião Salgado angehörte, große Reportagen von den Olympischen Spielen in München 1972, vom Jom-Kippur Krieg 1973, dem Iranisch-Irakischen Krieg ab 1980 oder über Flüchtlingslager in Bangkok gemacht.
Fotografisch werden alle Lebensbereiche für uns erschlossen
Nun schlenderte er wie ein Flaneur durch deutsche Städte und nahm seine Fotos mit einem so sachlichen wie empathischen Blick auf. Er sprach natürlich türkisch, was ihm rasch das Vertrauen der Porträtierten einbrachte und den Zugang etwa bis zum Schlafzimmer der Familie Sezgin in Duisburg ermöglichte, wo Ehefrau und Ehemann starr und reserviert nebeneinander auf dem mit einem rosaroten Überwurf bedeckten Bett sitzen.
Der thematische Querschnitt seiner Reportage ist enorm und reicht vom Döner-Imbiss in der Hamburger Innenstadt über einen Abstecher ins Arkadaş Theater („Bühne der Kulturen“) in Köln bis zu geschändeten türkischen Gräbern auf einem Friedhof in Berlin Neukölln, von einer Bauchtanzdarbietung in Berlin-Kreuzberg bis zu Streifzügen durch den gleichen Bezirk mit der Jugendgang 36 Boys, die ursprünglich als Hip-Hop-Crew gegründet worden war.
Wo immer Ergun Çağatay arbeitete, schaute er genau hin, bezog Umgebungen und Kontexte ein, vermaß visuell nicht nur die Distanz zwischen den Ländern und ihren Menschen, sondern stets auch die Distanz zwischen den Kulturen, den Klassen, zwischen Traum und Wirklichkeit. Dass er bereits auf die zweite Generation der Gastarbeiter treffen konnte, erweiterte das narrative Spektrum seiner Fotos, etwa wenn er einen Vater, ein Gabelstapelfahrer im Arbeitskittel, mit seinem Sohn, ein Ingenieur mit Sakko und Krawatte, im Ford-Werk in Köln-Niehl ablichtete – als perfekten Aufsteigertraum von einer Generation zur nächsten. Geradezu ikonografisch ist die Aufnahme der Familie Odabaşi in Duisburg geworden. Der Vater hat sich mit dem Sohn und den drei Töchtern (die Mutter ist zu Besuch in der Türkei) um den eigenen Mercedes gruppiert, der wie ein geschätztes Haustier und als wertvollstes Statussymbol vereinnahmt respektive stolz dargeboten wird.
Die Fotos von Ergun Çağatay zeigen als Subtext nicht das Trennende zwischen Einheimischen und Zugezogenen, stattdessen lieber das Verbindende: Die Sehnsucht nach Wohlstand, Erfolg, nach einem Pkw, einem Fernseher, einem schönen Zuhause und einer stabilen Familie. Die Feste sind fröhlich, ob bei Hochzeiten oder Beschneidungen, die Alltagsrealität ist hingegen oft von Armut, Anstrengung und bürokratischen Hürden gekennzeichnet, ob in den Bergwerken des Ruhrgebiets, auf der Werft Blohm + Voss in Hamburg, beim Warten in der Ausländerbehörde. Es gibt Rückzugsorte wie die Männercafés oder die kargen Hinterhöfe, in denen sich die Frauen treffen, auch die Parkplätze, auf denen Kinder spielen, doch für gewöhnlich sind die türkischstämmigen Menschen hier unter sich.
Empathisch hob er den Vorhang über einer Gesellschaft am Rand
Gemeinsam mit Deutschen sind sie höchstens bei politischen Demonstrationen unterwegs, wie gegen den Entwurf des neuen Ausländergesetzes in Hamburg 1990 (das bald danach beschlossen wird). Ansonsten bleibt man unter sich und auf Abstand. „Wenn man Menschen in Ghettos abschiebt, dann gestalten sie sich ihre eigene Gesellschaft“, wird Ergun Çağatay im hervorragenden Begleitbuch zur Ausstellung zitiert. Von dieser sich parallel zur Mehrheit der Bevölkerung etablierenden Community erzählen seine Fotos auf unsentimentale, direkte, mitfühlende Weise – und werfen eindringlich wie fordernd die Frage auf, was wir eigentlich voneinander wissen. So erhalten sie eine politische Dimension, deren Brisanz bis heute nachwirkt – und sie nach wie vor berührend ansehenswert macht.
Acht aktuelle Videointerviews, die an verschiedenen medialen Stationen zugänglich sind, erlauben den Rückblick im Licht neuer Erfahrungen, die inzwischen mit Migrationsströmen und deren Folgen vorliegen. Zu Wort kommen unter anderem der investigative Journalist Günter Wallraff, dessen 1985 erschienenes Buch „Ganz unten“, für das er sich undercover als türkischer Gastarbeiter Ali verdingte und dabei Ausländerfeindlichkeit, Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen erfuhr, einen Wandel in der öffentlichen Meinung auslöste. Im Vorwort schrieb er: „Ich weiß immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann.“ Die Soziologin und Publizistin Necla Kelek, in Istanbul geboren und seit über fünfzig Jahren in Deutschland, sagt zu den Problemen der mittlerweile vierten Generation von türkischstämmigen Menschen in Deutschland: „Ein Teil der Gesellschaft zu werden ist die wichtigste Aufgabe der Integration.“ In diesem Spannungsfeld bewegt sich „Wir sind von hier“ und hebt den Vorhang über Lebenswirklichkeiten, die in unmittelbarer Nähe liegen – und trotzdem unendlich fern scheinen.
Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990. Fotografien von Ergun Çağatay Bis 7.2.2023. Arnimallee 23, 14195 Berlin-Dahlem, Di-Fr 10-17 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr, Mo geschlossen, Tel. 030-266 42 42 42, www.smb.museum/mek
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