Vom Tagebau in die Tagesschau: 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen
Lesezeit 10 Minuten
Vor 60 Jahren begann mit dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen die Geschichte türkeistämmiger Gastarbeiter*innen in Deutschland. Im Interview sprechen die Kuratorinnen Hilal Sezgin-Just und Miriam Kurz über die Musik der Gastarbeiter*innen und ihre Ausstellung „Gurbet Şarkıları – Lieder aus der Fremde“ im Museum für Islamische Kunst.
Interview: Sven Stienen
Am 30. Oktober war der 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei, mit dem 1961 die Geschichte türkeistämmiger Gastarbeiter*innen in Deutschland begann. Die Musikausstellung „Gurbet Şarkıları – Lieder aus der Fremde“ im Museum für Islamische Kunst widmet sich diesem Abschnitt der deutschen Geschichte – warum steht das Thema Musik im Mittelpunkt der Ausstellung?
Hilal Sezgin-Just (HS): Es ist ein emotionales Thema und Musik kann diese Emotionen sehr gut ausdrücken. Die ersten türkeistämmigen Gastarbeiter*innen in Deutschland haben außerdem sehr viel Musik gemacht, die jedoch in der Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommen wurde. Wir wollen in der Ausstellung zeigen, was in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Bereich passiert ist, wie die erste Generation der Gastarbeiter*innen sich in der Musik ausgedrückt hat und wie die heutige Generation sich ausdrückt.
Miriam Kurz (MK): Wir haben uns auch für die Musik entschieden, weil wir keine klassische Gastarbeiterausstellung machen wollten, die bestehende Stereotype und Klischees reproduziert. Musik als Fokus ermöglicht neue Perspektiven auf die Menschen, um die es geht. Und schließlich war es uns auch wichtig, diesen Teil der deutschen Musikgeschichte sichtbar zu machen, der viel mehr Anerkennung verdient.
Was genau ist in der Ausstellung zu sehen?
MK: Die Ausstellung gliedert sich in drei inhaltliche Kapitel: Einen historischen Streifzug, einen Dokumentarfilm und eine Interview-Wand. Im ersten, historischen Teil können Besucher*innen die Entwicklung, von der Anfangszeit in den 1960er und 1970er Jahren über die 1980er und 1990er bis in die jüngste Vergangenheit der 2000er Jahre, nachvollziehen. Für jede Dekade werden ausgewählte Künstler*innen exemplarisch vorgestellt und man kann in das politische und gesellschaftliche Zeitgeschehen eintauchen. Die Besucher*innen lernen in diesem Kapitel unterschiedliche Musiker*innen kennen und erfahren, worüber sie gesungen haben und wie sich die Musik verändert hat.
Welche Veränderungen lassen sich inhaltlich und stilistisch ausmachen?
MK: Am Anfang wurde viel auf Türkisch gesungen und die bestimmenden Themen waren Identität, Heimat und das Leben in der Fremde. In den weiteren Jahrzehnten verändern sich die Inhalte und auch die Sprache, es wird auch auf Deutsch gesungen und es geht um Themen wie Rassismus, Diskriminierungserfahrungen und das Leben zwischen zwei Identitäten. Und man sieht über die Jahrzehnte auch, wie die Musiker*innen den Weg in die Charts und in die öffentliche Aufmerksamkeit schaffen geschafft haben. Heute haben wir Künstler*innen wie den Rapper Eko Fresh oder die Sängerin Elif, bei denen viele die Verbindung zur Gastarbeiter*innenkultur gar nicht mehr ziehen, weil sie ein etablierter Teil der Mehrheitskultur sind.
HS: In den ersten Jahren ging es in der Musik vor allem um das Gefühl des Heimatverlusts und das Zielpublikum waren die ersten Gastarbeiter*innen. Man hat für sich und über sich selbst gesungen, sowie für die Menschen in der Türkei, um ihnen zu zeigen, wie das Leben für ihre Freunde und Verwandten hier im fremden Deutschland war. In den 1980er Jahren hat sich das dann gewandelt: Mit dem Militärputsch von 1980 in der Türkei kamen andere Menschen nach Deutschland, es gab nun auch politisch Verfolgte und Intellektuelle im Exil. Die haben eine andere Art von Heimatsverlust erfahren und das in ihrer Musik verarbeitet. In den 1990er Jahren haben dann die Kinder der ersten Gastarbeiter*innen den Hip Hop als Ausdrucksform entdeckt und immer öfter auch auf Deutsch gerappt, weil es inzwischen zu ihrer primären Sprache geworden war. Aber diese Musik war etwas Hybrides, in dem sich türkische und deutsche Elemente vermischten. So war es zum Beispiel ganz typisch für die 90er Jahre, dass Melodien türkischer Hochzeitslieder in die Hip-Hop-Beats einflossen, wie bei der Band Cartel. Und ab 2000 geht es dann immer mehr um die Frage: „Wer bin ich?“ Die Künstler*innen können sich nicht mehr mit ihren Eltern und Großeltern identifizieren, weil sie einen anderen Lebensstil haben und teilweise auch gar nicht mehr so gut Türkisch sprechen – sie suchen also nach neuen Identitäten und verhandeln ganz neue Themen in ihrer Musik.
Es klingt so, als ließe sich da auch eine klare stilistische Entwicklung erkennen, von türkisch-traditioneller Musik hin zum globalen Hip Hop und Pop …
HS: Das stimmt so nicht ganz – in den 1980er Jahren war auch unter Gastarbeiter*innen die Rockmusik sehr etabliert. In der Türkei entstand bereits in den 1960er und 70er Jahren der so genannte Anadolu Rock, in dem sich türkische Folkmusik und Rock mit psychedelischen Elementen mischten. Die Türkei war vom internationalen Geschehen nicht ausgeschlossen und es gab dort eine große Hippie-Bewegung, die sich auch in der Kultur der Gastarbeiter*innen wiederfand. Insofern entspricht die Vorstellung, dass die frühen Gastarbeiter*innen nur Folklore gemacht haben, eher einem verbreiteten Stereotyp.
Hat die Musik dazu beigetragen, das Verhältnis von türkeistämmigen Menschen und der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu verändern und zu verbessern?
HS: Bestrebungen, die deutsche Mehrheitsgesellschaft zu erreichen, gab es in der Musik ab den 1970er Jahren. Das berühmteste Beispiel ist der Song „Deutsche Freunde“ von Ozan Ata Cananı aus dem Jahr 1978. Der Titel ist eine Anspielung auf eine Formulierung, die deutsche Politiker oft verwendet haben, wenn sie von den Gastarbeiter*innen als „unsere türkischen Freunde“ sprachen. Die türkeistämmigen Menschen haben sich aber nie wie Freunde gefühlt, denn sie wurden kaum beachtet und von der Mehrheit nicht Willkommen geheißen. Für Ozan Ata Cananı hat sich der Wunsch, mit diesem Lied auch die Deutschen zu erreichen, erst nach 35 Jahren erfüllt: 2013 kam eine migrantische Plattenfirma auf ihn zu und lud ihn ein, bei dem Projekt „Songs of Gastarbeiter“ mitzumachen – seither sehe er auch immer öfter Menschen ohne Türkeibezug auf Konzerten, wie Ata Cananı in dem Dokumentarfilm erzählt, den wir in der Ausstellung zeigen.
Warum hat es so lange gedauert?
MK: Deutschland versteht sich inzwischen als Einwanderungsland und es wird viel mehr über Migration, Integration und gesellschaftliche Vielfalt, über Diskriminierung und strukturellen Rassismus gesprochen. Das öffentliche Bewusstsein hat sich also verändert. Hinzu kommt, dass die Kinder und Enkel*innen der ersten Generation der Gastarbeiter*innen inzwischen vollständig in unserer Gesellschaft angekommen sind. Sie sind beruflich und politisch integriert und haben eine lautere Stimme als ihre Eltern und Großeltern, daher bringen sie diese Themen verstärkt in den gesellschaftlichen Diskurs.
HS: Die Kinder der Gastarbeiter*innen sind sprachfähiger und haben das kulturelle Know-How und den Zugang, um etwas zu bewegen. Eko Fresh hat das in einem Song auf den Punkt gebracht, in dem er rappt: „Früher im Tagebau, jetzt moderieren wir Tagesschau“. Ich stamme selbst aus einer Gastarbeiterfamilie und meine Eltern hatten nicht denselben Zugang zum kulturellen Mainstream wie ich und meine Generation. Wir können das und machen das und daraus entsteht auch der Wunsch, das, was unsere Eltern und Großeltern erlebt und gemacht haben, neu zu bewerten und aufzuarbeiten.
Wir sprachen eben über die verschiedenen Kapitel in der Ausstellung – welche Themen werden dort noch behandelt?
MK: Es gibt noch den einen Film des Dokumentarfilmers Mirza Odabaşı, in dem eine Rapperin und der Begründer eines Musiklabels zu Wort kommen. Hier erfährt man viel über die Entwicklung der ganzen Musikkultur. Der Labelmacher erzählt zum Beispiel davon, wie schwierig es war, Künstler*innen ausfindig zu machen, weil viele Aufnahmen nur auf unmarkierten Kassetten existierten und jegliche Infos in mühsamer Internetrecherche zusammengesucht werden mussten, bevor man die Leute ansprechen und unter Vertrag nehmen konnte.
HS: Ein gutes Beispiel dafür ist der Sänger Metin Türköz. Er ist einer der ersten Gastarbeiter, die Musik gemacht haben. Er hat damit begonnen, türkische Volkslieder auf verschiedenen Veranstaltungen zu singen, aber diese Lieder und die Texte waren spontane Improvisationen. Mit der Zeit wurden Leute auf ihn aufmerksam und rieten ihm, seine Musik aufzunehmen. In den 1970er Jahren war er in der türkeistämmigen Community und vor allem in der Türkei selbst recht bekannt. Er war dort sehr aktiv und wurde vor allem rezipiert, weil er über die Schwierigkeiten in Deutschland gesungen hat – doch es gelang ihm nie, in Deutschland mit seiner Musik Anerkennung zu bekommen und so arbeitete er jahrzehntelang als Metzger und machte die Musik nebenbei. Jetzt ist er über 80 Jahre alt und erlebt plötzlich ein nie dagewesenes Interesse.
In welcher Rolle sehen die Künstler*innen sich selber in diesem Prozess? Steht das Bedürfnis im Vordergrund, die eigene Lebenssituation künstlerisch zu verarbeiten oder sahen sie sich immer auch als Sprachrohr und Überbringer von politischen Botschaften?
MK: Abgesehen davon, dass die Aussagen und auch das jeweilige Publikum der Künstler*innen keineswegs homogen sind, steckt meines Erachtens bei ihnen allen mehr dahinter, als sich persönlich auszudrücken. Die Lieder von Metin Türköz richteten sich an die türkische Community und enthielten die klare Warnung: „Erwartet nicht zu viel, es ist nicht alles so toll in Deutschland, wie man in der Türkei erzählt“. Ozan Ata Cananı hingegen hat mit seinem Song „Deutsche Freunde“ ganz klar die deutsche Mehrheitsgesellschaft und deutsche Politiker*innen angesprochen. Wenn er singt „Es wurden Arbeiter gerufen, aber es kamen Menschen, keine Maschinen“, dann ist das eine politische Aussage und verweist darauf, wie mit den Gastarbeiter*innen umgegangen wurde. Und auch in jüngeren Songs geht es oft um Diskriminierungserfahrungen, wenn zum Beispiel Eko Fresh in seinem Song „Quotentürke“ die Zeile rappt: „Ganz egal wie sehr ich mich auch änder‘, ich bleib‘ immer dieser Scheißausländer“. Das zeigt die Frustration darüber, dass er trotz seines Erfolgs immer wieder die Erfahrung macht, doch nicht dazuzugehören.
Also vermischen sich persönliche und politische Motive?
MK: Es gibt tatsächlich ein Motiv, das all diese Künstler*innen verbindet und das sich vor allem im dritten Teil unserer Ausstellung zeigt, der aus einer Sammlung von Interviews besteht: Hier erzählen die Beteiligten, was die Musik für sie bedeutet und alle beschreiben, wie sehr es hilft zu sehen, dass man mit der Situation nicht allein ist. Und ich glaube, dass das eine große gemeinsame Motivation der Musikschaffenden ist, ihre Erfahrungen zu teilen und dadurch eine Plattform der Gemeinschaft und der Identifikation zu bieten.
HS: Das Stichwort Empowerment ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, es geht um Selbstermächtigung. Wir sind jetzt sprachfähig und können uns gegen Vorurteile und Benachteiligung wehren. Von sich selber wie Eko Fresh als „Scheißausländer“ zu sprechen, ist in diesem Zusammenhang eine Geste: Ich nehme das Wort, das ich von außen zugeschrieben bekomme, und mache mich darüber lustig.
Welche Botschaft oder Erfahrung sollten Besucher*innen aus der Ausstellung mitnehmen?
HS: Ich würde mir wünschen, dass die Besucher*innen mehr über die Vielfalt der türkischen Musik in Deutschland lernen. Das gängige Bild ist noch immer von Popmusik wie Tarkan geprägt, dabei waren etwa Rock und Rap und viele weitere Spielarten immer zentraler Bestandteil dieser Musik. Außerdem finde ich es wichtig zu vermitteln, wie viel kulturelles Gut vor allem die erste Generation der Gastarbeiter*innen produziert hat und wie sie die deutsche Musikgeschichte mitgestaltet haben, ohne dabei wirklich wahrgenommen zu werden.
MK: Ich hoffe, dass die Leute neugierig aus der Ausstellung gehen und einige der Künstler*innen und Songs noch mal anhören und Neues entdecken. Und ich würde mir wünschen, dass unsere Ausstellung einen menschlichen Zugang zu dem Thema schafft. Gerade durch die Interviews im dritten Abschnitt entsteht ein individueller Zugang, der dem Label „Gastarbeiter“ viele persönliche Perspektiven und Geschichten gegenüberstellt. Die unterschiedlichen Biografien sind sehr spannend, und ich hoffe, dass diese persönlichen Geschichten mehr in den Vordergrund rücken und dass die Deutschen ohne Türkeibezug diesen Teil der Geschichte unseres Landes künftig vielleicht mit anderen Augen sehen.
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Kommentare
Was hab ich damalas gelacht über den Eko Track, immer noch hammer!