Zusammenhalt in Turm-Form: Die katalanische Tradition der Castells
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Menschliche Türme, bis zu zehn Etagen hoch: Was in Katalonien als „Castells“ bekannt ist, gehört seit 2010 zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO. Die jahrhundertealte Tradition kommt im Mai anlässlich der Europäischen Kulturtage im MEK nach Berlin.
Interview: Andrea Aßinger
Am 3. Mai treffen sich im Garten des Museums Europäischer Kulturen (MEK) mehrere Castellers-Gruppen zum Internationalen Menschenturm-Treffen. Die Veranstaltung bildet den Auftakt zu den Europäischen Kulturtagen 2025, die der spanischen Region Katalonien gewidmet sind.
Mit einer Ausstellung und einem vierwöchigen Begleitprogramm stellt das MEK jährlich eine europäische Region oder Stadt vor. Im Mittelpunkt stehen dabei die Menschen und ihre kulturellen Ausdrucksformen. In diesem Jahr richtet sich der Blick auf Katalonien im Nordosten Spaniens.
Was es mit den Menschentürmen auf sich hat und wie sie nach Berlin kamen, erzählt Mercè Ardiaca Jové, Mitglied der Berliner Castellers-Gruppe.
Warum klettern die Katalanen aufeinander, um Menschentürme zu bauen?
Mercè Ardiaca Jové: Die katalanischen Menschentürme, die sogenannten Castells, – was wörtlich übersetzt Burgen oder Schlösser bedeutet – sind Formationen bestehend aus sechs bis zehn Etagen, was auch schwindelerregenden Höhen zwischen sechs und zehn Metern entspricht.
Ihr Ursprung geht auf das Ende des 17. Jahrhunderts zurück. Damals wurde bei bestimmten Festen zum Abschluss eines religiösen Straßenumzugs eine kleine Figur errichtet. Irgendwann fanden einige Leute die Figur wohl viel spannender als den Rest, die Prozessionen rückten in den Hintergrund und die Menschen konzentrierten sich darauf, diese Abschlussfigur möglichst hoch zu bauen. So entstanden dann die Castells wie wir sie kennen. Mit ihnen sehr eng verwandt ist die valenzianische Tradition der Muixeranga.
Wir verstehen uns nicht als Sportler:innen. Bei vielen Gruppen ist es sogar ein Tabu, von einem Training zu sprechen. Bei uns ist es wie im Theater – es wird ständig geprobt und geprobt! Castells lassen sich viel mehr als Tradition bezeichnen, die aber durchaus viel Technik und Können abverlangt. Noch wichtiger als die Technik sind jedoch die Werte, die jede colla (so nennen sich die lokal organisierten Gruppen von Menschentürmen) trägt: Teamgeist, Solidarität, gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung aller Fähigkeiten, Körper und Geschlechter. Denn bei uns sind alle gefragt: kleine Kinder klettern bis an die Spitze, breite Menschen geben Stabilität an der Basis, lange Arme halten verschiedene Ebenen zusammen… Wir brauchen uns alle gegenseitig, bei jeder Probe und bei jedem Auftritt! Ich sehe es so: Es sind Werte des Zusammenhalts, die in ein paar Minuten die Form eines menschlichen Turmes annehmen. Kein Wunder also, dass Castells 2010 zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe ernannt wurden.
Wie fühlt es sich an, mitzumachen?
Das erste Mal, dass ich bei einer pinya, der Basis, mitgemacht habe, war 2007. Ich wurde an die richtige Stelle platziert und sollte dabei helfen, die Struktur zu halten. Es ist ein seltsames, zugegebenermaßen auch unbequemes und gleichzeitig aufregendes Gefühl: da unten in der pinya sieht man nichts, man darf aus Sicherheitsgründen auch nicht aufschauen, und man spürt viele angespannte und konzentrierte Körper um sich herum. Eine bestimmte Melodie gibt Hinweise zum Fortschritt des Castells, die Spannung steigt, manche rufen sich kurze Anweisungen zu, die Zeit fühlt sich gedehnt an. Es heißt konzentriert ausharren. Irgendwann löst sich die Spannung und alle jubeln euphorisch: Geschafft!
Für mich sind Castells ein Teil meiner Identität, den ich erst in Berlin „von innen“ kennenlernen durfte. Aber das muss nicht unbedingt so sein. Bei uns – und bei den anderen internationalen sowie lokalen Gruppen ist es genauso – machen Leute mit unterschiedlichsten Hintergründen mit. Uns gibt es seit sieben Jahren. In unserer colla darf ich manchmal klettern, aber ich nehme auch bestimmte Positionen in der Basis ein: beispielsweise als crossa („Krücke“), die der ganz untenstehenden Person wortwörtlich als Krücke, also als Stütze, dient. Ich bin auch gerne das Treppchen, das die Kletternden nutzen, um mühelos auf die pinya zu gelangen. Menschen mit anderen Körpermaßen, beispielsweise mit langen Körpern und Armen sind prädestiniert für die erste Reihe der Basis. Diese hält die zweite Ebene in der richtigen Form und verteilt die Last auf die gesamte pinya. Kleine, breit gebaute Menschen sind ideal für die unterste Ebene, die mich als Krücke bekommt. Die leichtesten und flinksten Kinder klettern bis ganz oben. Hinzu kommen dann noch ganz viele andere Funktionen: wir haben Musiker:innen, technische Leiter:innen, Organisator:innen, Kinderbetreuung. Wenn man also zusammenfassen wollte, was man können muss, würde ich sagen: Teamarbeit!
Wie kam es dazu, dass die doch recht spezielle katalanische Tradition der Menschentürme heute in ganz Europa existiert?
In den letzten Jahren haben sich ganz viele internationale colles gegründet, üblicherweise aus der Initiative von ein paar Auslandskatalan:innen heraus. Es gibt sie also vor allem in Großstädten, aber nicht nur in Europa. Ganz stolz sind wir auf unsere Menschenturmbauer:innen in Montréal, Lo Prado bei Santiago de Chile und Sydney sowie Tokyo und dem Baskenland, die sich ganz frisch gegründet haben!
Bei dem International Human Tower Fest geht es darum, den internationalen colles eine der wenigen Chancen für den gemeinsamen Bau von Menschentürmen zu bieten, so wie es in Katalonien geschieht. Wir nutzen die Gelegenheit auch, um Erfahrungen miteinander zu teilen und dieser katalanischen Tradition internationale Sichtbarkeit zu verleihen.
Als kleiner Fun-Fact: Jede colla hat zusätzlich zum offiziellen Namen einen Spitznamen. Die Pariser:innen nennen sich beispielsweise geperuts, also die Buckeligen (von Notre-Dame, versteht sich). Wir in Berlin nennen uns selbstbewusst und selbstironisch Hochstapler:innen. Wir sind immerhin die besten in ganz Deutschland!
Das Treffen der internationalen Castellers-Gruppen am 3. Mai 2025 findet im Rahmen der Europäischen Kulturtage des MEK statt, die ab 15. Juni 2025 die spanische Region Katalonien in den Mittelpunkt stellen und zusammen mit der Vertretung der Regierung von Katalonien in Deutschland organisiert werden.
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