„Zwischen Mittelmeer und Skandinavien einzigartig“. Sammlungsbestände von der Krim am MEK
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In welchem Verhältnis stehen historische Artefakte und kulturelle Identität? Können Museumssammlungen als Ressource für die kollektive Erinnerung an die Vergangenheit und für politische Auseinandersetzungen in der Gegenwart genutzt werden? Was nach Fragen für ein Proseminar klingt, wird mit Blick auf die Objekte von der Krim im Museum Europäischer Kulturen (MEK) schnell konkret.
Text: Matthias Thaden
Dieser Text entsteht zu einer Zeit, in der die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 und die imperiale Losung einer „russischen Krim“ auch in Deutschland von immer mehr Menschen als Tatsache akzeptiert werden. Zunehmend scheinen die Halbinsel und ihre Bewohner:innen zur Verhandlungsmasse der internationalen Geopolitik zu werden. Die Geschichte ist jedoch komplexer und die Kultur ihrer Bewohner:innen sehr vielfältig. Die Krim ist Heimat verschiedener Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen historischen Entwicklungen.
Blick auf Bağçasaray, Im Vordergrund ein Minarett der Palastmoschee, Nata und Hans Findeisen, 1929, Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin, VIII Eu 1251
Die Krimtatar:innen stellten als Muslim:innen bis zur Einverleibung der Halbinsel durch das russische Zarenreich im Jahr 1783 und einer darauf folgenden Politik kolonialer Landnahme noch die Bevölkerungsmehrheit. Dies änderte sich im 19. Jahrhundert: Immer mehr Krimtatar:innen migrierten ins angrenzende Osmanische Reich. Vor allem nach dem Krimkrieg (1853-1856) wurden sie, ihre Sprache, Religion und Kultur zunehmend marginalisiert und die Krim sukzessive russifiziert.
Erste Objekte von der Krim, die das damalige Völkerkundemuseum in Berlin ab dem späten 19. Jahrhundert erwarb, stammen bereits aus dieser Zeit. Hunderte weitere Artefakte krimtatarischer Alltagskultur kamen später hinzu, aber auch aufwändig bestickte Kleider, Schals (Marama) und filigran gestaltete Kappen (Fes, Töpeliq). Entstanden zu einem wesentlichen Teil vor der Oktoberrevolution, sind diese Artefakte alte Zeugen krimtatarischen Kunst- und Kulturschaffens. Sie zeigen zudem, wie sehr osmanische, slawische, kaukasische und persische Einflüsse in der nördlichen Schwarzmeerregion eine einzigartige Melange schufen.
Kappe für Jungen (Bala fesi), gesammelt von Nata und Hans Findeisen, 1929, Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin, II C 352
Diese Objekte stammen vor allem aus Bağçasaray (ua/rus Бахчисарай/Bachtschisarai), der alten krimtatarischen Hauptstadt. Gesammelt wurden sie größtenteils in den 1920er Jahren von den Ethnograf:innen Nata und Hans Findeisen. Hinzu kommen Seidenbeutel und Futerale, die noch älteren Datums sind. Ein besonderes Highlight der Sammlung sind zudem die Bilder und Modelle, die der Maler und Ethnograf August-Wilhelm Kiesewetter Mitte des 19. Jahrhunderts von den Bewohner:innen der Krim, ihrem Alltag und Wohnumfeld geschaffen hat. Schließlich besuchte Elisabeth Tietmeyer als damalige Sammlungsleiterin Europa am Völkerkundemuseum die Halbinsel. Durch die Reise der heutigen Direktorin des MEK wurde der Bestand an krimtatarischen Objekten nochmals bedeutend erweitert.
Modell des Khanspalast von Bağçasaray, August-Wilhelm Kiesewetter, 1846, Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin, II E 116
Mit der Zeit entstand so eine Sammlung, von der der Sammler Hans Findeisen schon in den 1920er Jahren sagte, dass sie den Vergleich mit denen vor Ort nicht scheuen müsse. Und tatsächlich ist die Sammlung heute die größte ihrer Art außerhalb der Russländischen Föderation und der Krim. Systematisch aufgearbeitet wurde sie allerdings nie. Auch sind die vielfältigen Objektbestände, sieht man von einer kleinen Schau im Jahr 1930 und punktuellen Interventionen im MEK ab, bislang nicht ausgestellt worden.
Im März 2022 zeigte das MEK anlässlich des Beginns des russischen Angriffskrieges ukrainische Objekte aus seiner Sammlung. Darunter befand sich auch ein krimtatarischer Teppich (Kilim), Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin/Christian Krug
Wäre dies schon für sich genommen ein Grund, sich diesem Schatz in den Sammlungsbeständen genauer zu widmen, gilt dies insbesondere aufgrund der weiteren Geschichte der Krimtatar:innen und ihrer materiellen Kultur. Als Vergeltung für ihre angebliche Kollaboration während der deutschen Besatzung der Krim wurden sie unter Josef Stalin im Jahr 1944 kollektiv aus ihrer Heimat verschleppt und ins heutige Usbekistan deportiert. Es war nicht zuletzt die Pflege der Traditionen, das Studium der alten Techniken und Motive, die das Bewusstsein krimtatarischer Identität auch im Exil zu bewahren halfen. Dies war zentral, um nach der Rückkehr in den 1990er Jahren auf der Krim ein krimtatarisches Leben wiederaufzubauen. In weitgehender politischer und kultureller Autonomie erlebten die krimtatarische Kultur und ihre Erforschung eine Renaissance. Auch die kritische Auseinandersetzung mit der Kolonisierung, Vertreibung und einer kulturellen Marginalisierung unter russisch-imperialen Vorzeichen konnte nun erstmals stattfinden.
Mit der erneuten Okkupation der Halbinsel im März 2014 kam dies zu einem abrupten Ende: Die Grundrechte auf der Krim werden seitdem systematisch eingeschränkt und die verfassungsmäßige Autonomie faktisch aufgehoben. „Seit der Annexion der Krim durch Russland ist die kulturelle Identität der Krimtatar:innen durch zwangsassimilierende Maßnahmen akut bedroht,“ sagt auch Mieste Hotopp Riecke. Der promovierte Turkologe und Islamwissenschaftler steht in engem Austausch mit vielen Kolleg:innen von Museen und Universitäten auf der Krim und dem ukrainischen Festland. In einer Vorstudie, gefördert durch die Ernst von Siemens Kunststiftung, verschafft er sich momentan einen Überblick über die in den Depots des MEK lagernden Objekte. „Die Sammlungsbestände sind ein unglaubliches Zeugnis vom krimtatarischen Kunst- und Kulturschaffen. In keinem Museum in Europa habe ich bislang vergleichbares gesehen,“ so Hotopp-Riecke. Gerade das filigrane Kunsthandwerk, das unter jungen Krimtatar:innen gerade eine Renaissance erlebt, aber auch die historischen Modelle gäben einen faszinierenden Eindruck vom kulturellen Reichtum der Krim vor der Vertreibung und der derzeitigen Repression.
Gewand eines Mullahs (Djubbe), ), gesammelt von Nata und Hans Findeisen, 1929, Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin, II C 340
Doch nicht nur ob des momentanen Krieges und der Zerstörung kulturellen Erbes in der Ukraine hat die Sammlung an Relevanz und Brisanz gewonnen, so Hotopp-Riecke, der ein breites Netzwerk zu krimtatarischen Initiativen unterhält. So könne die Sammlung am MEK helfen, weggebrochenes Wissen um die Vielfalt im europäischen Osten zu erneuern. Denn in früheren Generationen sei dieses Wissen traditionell weitaus umfangreicher gewesen. Andererseits fände krimtatarisches Leben heute nicht mehr nur auf der Krim statt, sondern auch in Deutschland, wo ca. 220.000 Menschen krimtatarischer Abstammung lebten. Hier könne die Sammlung ebenfalls wirken – als direktes Betätigungsfeld für Exilant*innen aus der Ukraine und als Brücke zwischen Generationen und Kulturen.
Eine freie Auseinandersetzung mit solchen Artefakten, mit der eigenen Sprache, Kultur und Geschichte ist in der russisch besetzten Krim derzeit kaum möglich. Umso wichtiger ist es, dass die europäischen Museen mit Beständen von der Krim diese Objekte wiederentdecken und sie gemeinsam mit krimtatarischen Communities im In- und Ausland erforschen und präsentieren. Genau dies strebt das MEK derzeit an. Insbesondere mit Partner:innen aus der Ukraine sollen innerhalb der nächsten Jahre einzelne Objektkonvolute näher erforscht und auf ihre Bedeutung für heutige krimtatarische Identitäten befragt werden. Sammlungen wie die am MEK seien letztlich auch ein „Symbol des Widerstands während des Krieges“. Dies sagt Rustem Skybin, einer der bedeutendsten gegenwärtigen krimtatarischen Künstler, der sich schon jetzt auf die Zusammenarbeit mit dem Museum freut.
Dr. Mieste Hotopp-Riecke und Dr. Matthias Thaden befassen sich derzeit mit der Geschichte und den aktuellen Bezugspunkten der krimtatarischen Sammlung am MEK, Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin/Christian Krug
Gerade angesichts eines offen imperial agierenden Russlands unter Putin, so Matthias Thaden, wissenschaftlicher Mitarbeiter am MEK, könnten historische Sammlungen wie diese zu einer Perspektive aus Osteuropa beitragen, die nicht auf Russland fixiert bleibt. Noch klarer fasst es Elisabeth Tietmeyer, Direktorin des Museums, zusammen: „Wer die Krim verstehen will, muss die Geschichte der Krimtatar:innen erzählen. Ihre lange überhörte Stimme ist entscheidend – für eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte und eine Zukunft der Halbinsel in Freiheit und Demokratie.“
Dr. Mieste Hotopp-Riecke und Dr. Matthias Thaden befassen sich derzeit mit der Geschichte und den aktuellen Bezugspunkten der krimtatarischen Sammlung am MEK, Museum Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin/Christian Krug
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