“Kultur ist nicht weniger anfällig für Manipulationen“
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Noch am 23. Februar bereitete Hanna Rudyk eine große Ausstellung im Kyiver Khanenko-Museum vor. Dann kam der russische Angriff und die Kuratorin floh nach Berlin, wo sie im Rahmen des SPK-Stipendienprogramms am Museum für Islamische Kunst ein Projekt zur Dekolonialisierung durchführte.
Frau Rudyk, wie hat sich der Krieg auf Ihre Arbeit und Ihr Leben in der Ukraine ausgewirkt? Woran haben Sie zuvor gearbeitet?
Meine Familie und ich sind zuerst in die Stadt Lviv in der Westukraine gezogen. Ich bin dann am 11. April nach Deutschland gekommen, zusammen mit meinen beiden jüngeren Kindern.
Der Krieg hat alles verändert. All unsere Pläne für das Leben, die Arbeit, die Ausbildung der Kinder und das Reisen wurden am 24. Februar zur Vergangenheit. Alles musste neu überdacht werden.
Islamic collection on display of the Khanenko Museum before February 24, 2022. Ⓒ Olga Miklashevska
Ich habe seit fast 20 Jahren im nationalen Khaneko-Museum in Kyiv gearbeitet. Eigentlich lag der der Schwerpunkt meiner Arbeit dort auf der Konzipierung von Vermittlungsstrategien und der Kuratierung der Sammlung islamischer Kunst, aber ab und an habe ich Projekte zur Geschichte des Museums vorbereitet, einem weiteren Bereich meiner Forschung. Das Jahr 2022 sollte ein ganz besonderes Jahr werden. Wir hatten geplant, den 170. Geburtstag und den 100. Todestag von Varvara Khanenko, der namensgebenden ukrainischen Kunstsammlerin und Philanthropin, die das Museum gegründet hat, zu feiern.
Ich habe ein großes Ausstellungsprojekt kuratiert, an dem vier weitere Kyiver Nationalmuseen beteiligt waren und das darauf abzielte, die großartige Kunstsammlung Bohdan und Varvara Khanenkos zu rekonstruieren. Noch am Vorabend des Kriegsausbruchs, am 23. Februar, besuchte ich eines der Partnermuseen, um Objekte für die Ausstellung auszuwählen. Außerdem war geplant, eine Archivrecherche durchzuführen, die Drehbücher für eine Radioserie und eine Fernsehsendung zu schreiben und ein Buch über Varvara Khanenko zu verfassen. Der Einmarsch Russlands und der allgegenwärtige Krieg haben die meisten dieser Pläne zunichtegemacht.
Wie haben Sie von dem SPK-Stipendienprogramm erfahren, als Sie nach Berlin kamen?
Ich hatte bereits beschlossen, mich für das SPK-Stipendium zu bewerben, als ich noch in Lviv war. Wo ich die Ausschreibung gesehen habe, weiß ich nicht mehr genau. Wie viele andere Ukrainer*innen habe ich damals eifrig alle Informationen über jegliche Art von Unterstützung für unser Volk recherchiert und weiterverbreitet. Als ich von dem SPK-Stipendium für ukrainische Wissenschaftler*innen erfuhr, dachte ich, dies sei eine gute Gelegenheit, mich zu bewerben und das zu tun, was jetzt für die Ukraine und ihre Museen wirklich wichtig ist: sich auf den Diskurs und die Bewegung zur Entkolonialisierung vorzubereiten. Ich glaube, durch diesen schrecklichen Krieg sind wir uns jetzt alle der Wichtigkeit von Entkolonialisierung bewusst.
Sie haben jetzt ein Stipendium am Museum für Islamische Kunst. Was genau machen Sie dort? Konnten Sie Ihre Forschung ohne Probleme fortsetzen?
Ich arbeite an einem Forschungsprojekt, das sich mit der Entkolonialisierung von Museen beschäftigt. Ich interessiere mich vor allem für die Verschiebung der musealen Narrative im Lichte neuer sozialer, politischer und ethischer Herausforderungen, denen das Museum für Islamische Kunst in Berlin gegenübersteht. Insbesondere analysiere ich die aktuellen und geplanten Ausstellungen des Museums und ihre Kernaussagen für die Öffentlichkeit. Ich lese die Publikationen des Museums der letzten Jahre aufmerksam und spreche mit den Mitarbeiter*innen, die für die Entscheidungen über die Konzepte und Inhalte des Museums verantwortlich sind. Es handelt sich um ein neues Projekt, dessen Idee ich bereits in Lviv entwickelt habe, wobei ich darüber nachgedacht habe, wie ich für Kyiv und die Ukraine von maximalem Nutzen sein kann. Das Thema des Projekts ist für das Khanenko-Museum und andere ukrainische Museen schon lange überfällig. Aber wie es halt immer so ist, hatte ich so viel zu tun, dass ich es vorher einfach nicht geschafft hatte, mich darauf zu konzentrieren.
The khanenko Museum in Kyiv, the Grand Staircase before. Ⓒ Mykhailo Andreyev
Wie ist das Arbeitsumfeld und wie ist die Arbeit mit der Sammlung im Museum für Islamische Kunst?
Das Museum für Islamische Kunst hat mich bei meiner Arbeit sehr unterstützt. Ich bin dem Museumsdirektor Stefan Weber und den Mitarbeiter*innen sehr dankbar, insbesondere Roman Singendonk, dem Koordinator meines Engagements und Kurator der innovativen Vermittlungsprogramme des Museums, die sich an die Herkunftsgemeinschaften richten.
Ich habe gerne mit den Berliner Kolleg*innen zusammengearbeitet. Das Museum für Islamische Kunst in Berlin ist zwar viel größer als das Khanenko-Museum in Kyiv und verfügt über größere Forschungskapazitäten, trotzdem war die Gesprächen mit den Museumsmitarbeiter*innen immer auf Augenhöhe. Museumsleute sind in der Regel sehr engagiert, voller Enthusiasmus und überlastet mit Aufgaben. Es gab viele Dinge, die ich an ihrer Arbeitsweise toll fand, aber auch Dinge, die mich überraschten.
Ich habe jetzt nicht direkt mit der Museumssammlung zu tun, was die Zuschreibung von Kunstwerken oder die Provenienzforschung angeht. Allerdings umfasst mein Projekt diese beiden und auch anderen Bereiche der Museumsarbeit, denn es geht darum, sie im Hinblick auf die Ideen und Bewegungen der Dekolonisierung zu betrachten.
Konnten Sie während Ihrer Arbeit hier in Berlin neue Erkenntnisse gewinnen?
Ja, viele. Ich bin ein Neuling auf dem Gebiet der musealen Dekolonisierung, dies ist meine erste persönliche praktische Erfahrung mit diesem Thema.
Hatten Sie schon Interesse an der Sammlung des Museums, bevor Sie nach Deutschland kamen?
Ich hatte schon seit vielen Jahren eine Vorstellung von dieser berühmten Sammlung, da wir in unserer Forschungsbibliothek im Khanenko-Museum einige Publikationen dazu haben: Einige davon sind älter, andere ganz neu. Außerdem war ich vor 2022 bereits zwei Mal in Berlin, um mehr über diese Sammlung und ihre Archive zu erfahren.
The Khanenko Museum in Kiew, Fassade. Ⓒ The Khanenko Museum
Was werden die nächsten Schritte in Ihrer Arbeit sein? Was sind Ihre Pläne für die unmittelbare Zukunft?
Ich schließe jetzt meinen Bericht über das Projekt des Museums für Islamische Kunst ab und werde mich mit anderen Museen in Deutschland und Europa befassen. Ich plane, Erfahrungen mit der Dekolonisierung von Narrativen außereuropäischer Kulturen in Museen in den Niederlanden und Polen zu untersuchen. Dieses größere Projekt ist bereits von einer der deutschen Geberinstitutionen bestätigt worden.
Wie können westliche Museen und Kultureinrichtungen Ihrer Meinung nach der Ukraine helfen, ihr Erbe zu bewahren?
Ich denke, das Wichtigste, was sie tun können, ist, die ukrainische Agenda in allen Bereichen der öffentlichen Debatte zu unterstützen. Sowohl die deutsche Regierung als auch die deutsche Gesellschaft haben Schwierigkeiten damit, die monströse Realität des russischen Krieges in der Ukraine zu akzeptieren, ebenso wie die wirtschaftlichen Folgen dieses Krieges für ganz Europa. Umso wertvoller ist die moralische Haltung der eindeutigen Unterstützung für die Ukraine durch die Meinungsführer*innen, zu denen viele deutsche Museen und andere kulturelle Organisationen gehören. Auf der Seite der Wahrheit zu stehen, in Übereinstimmung mit dieser Position zu sprechen und zu handeln, das ist, wie deutsche Kultureinrichtungen der Ukraine helfen können und bereits in hohem Maße helfen.
Hanna Rudyk Ⓒ privat
Gleichzeitig war und ist die direkte technische Unterstützung deutscher Kultureinrichtungen für ukrainische Museen natürlich von großem Wert für den Erhalt des kulturellen Erbes.
Glauben Sie, dass Kultur, Wissenschaft und Kunst in der Lage sein werden, Brücken zwischen den Menschen zu bauen und die Schwierigkeiten der Zukunft zu überwinden?
Jede wirklich offene Diskussion, die auf der Bereitschaft beruht, sich gegenseitig zu verstehen und eine gemeinsame Lösung zu finden, baut Brücken zwischen den Menschen. Ich glaube nicht, dass Kultur im engeren Sinne des Begriffs, als ein bestimmter Bereich menschlicher Tätigkeit, weniger anfällig für Manipulationen ist als andere Bereiche. Das hohe kritische und kreative Potenzial der Kultur (einschließlich Wissenschaft und Kunst) legt jedoch nahe, dass die Kultur als Bereich der freien Diskussion besonders produktiv für die Entwicklung einer solidarischeren und glücklicheren Gesellschaft sein kann.
Was ist Ihre Perspektive nach dem Ende des Stipendiums? Glauben Sie, dass Sie in die Ukraine zurückkehren und Ihre Arbeit nahtlos fortsetzen können?
Wie bereits erwähnt, plane ich, meine Arbeit in Deutschland fortzusetzen und den Gegenstand meiner Forschung zu erweitern. Ich bin mit zwei minderjährigen Kindern hier, und das ist der Hauptgrund, warum ich vorerst nicht nach Kyiv zurückkehre. Ich hoffe jedoch sehr, dass ich sofort oder sehr bald nach Abschluss eines größeren Projekts über die Dekolonisierung in europäischen Museen in die Ukraine zurückkehren kann. Ich hoffe, dass Russland bis dahin besiegt sein und der Krieg vorbei sein wird. Bis dahin werden die Ideen und Erfahrungen, die ich während meiner Forschung verarbeite, zu einer Art Werkzeugkasten für die Überarbeitung der Narrative und Ansätze des Khanenko-Museums sowie anderer Museen, die außereuropäische Kulturen in der Ukraine präsentieren.
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