Am 6. Januar 2022 wäre Heinrich Schliemann 200 Jahre alt geworden. Anlässlich dieses Jahrestags sprachen wir mit Matthias Wemhoff, Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte, über die faszinierende Lebensgeschichte des berühmten deutschen Archäologen und Troja-Entdeckers sowie über die für Mai 2022 geplante Ausstellung „Schliemanns Welten“.
Interview: Sven Stienen
Jeder kennt den Mythos Schliemann: Ein Mann verwirklicht seinen Lebenstraum, findet das antike Troja und begründet im Alleingang die moderne Archäologie – was davon hat nach heutigem Wissensstand noch Bestand?
Matthias Wemhoff: Heinrich Schliemann hat jedenfalls nichts von seiner Aktualität verloren. Wir schauen natürlich immer aus unserer Zeit heraus auf seine Entdeckungen und Errungenschaften. Aber ganz unabhängig von unserer Beurteilung bleibt Schliemann ein absolut faszinierender Mensch, der sehr viel erlebt und geschafft hat – ein Leben, von dem wir teilweise nur Facetten kennen und das auch widersprüchlich war.
Wurde der Mythos durch das Aufdecken der Widersprüche zerschlagen?
Es gab eine lange Phase, in der man Schliemann entzaubern wollte, seine Tagebücher wurden kritisch nach Fakten und Widersprüchen durchsucht. Ich glaube wir sind inzwischen weiter und haben heute ein ganzheitlicheres Verständnis seiner Person. Persönlichkeiten sind nicht schwarz und weiß, sie sind nicht in einem Urteil zu erfassen. Und Schliemann ist tatsächlich jemand, der in Stories denkt und sich selbst als Teil der Geschichten erlebt. Das beste Beispiel dafür ist sein Schiffbruch 1841 vor der niederländischen Insel Texel, der auch in unserer kommenden Schliemann-Ausstellung ein Thema sein wird.
Was hat es damit auf sich?
Schliemanns Leben stand oft am Scheideweg und hätte ganz anders verlaufen können. Als junger Mann will er aus seiner Heimat Mecklenburg ausbrechen und die Welt entdecken. Er entscheidet sich, nach Südamerika auszuwandern. Wenn das geklappt hätte, hätte er vermutlich niemals Troja entdeckt. Doch es kam anders: Schliemanns Schiff erleidet Schiffbruch und er strandet auf der Insel Texel. Von dort schreibt er einen Brief an seine Schwester, in dem er das Unglück sehr dramatisch schildert: Er sei nur knapp mit dem Leben davongekommen, habe sich an eine Planke klammern müssen und sein ganzer Besitz sei verloren gegangen. Er beschreibt, wie er im Dunkeln über die Insel irrte und schließlich ein Haus fand, in dem man ihm Sicherheit bot. Neue Recherchen des Versicherungsberichtes von damals zeigen aber, dass es in Wirklichkeit ganz anders war: Das Schiff ist zwar vor Texel aufgelaufen, aber die Evakuierung verlief geordnet und alle Personen an Bord konnten mitsamt ihren Habseligkeiten ein Rettungsboot besteigen, das sie ans Festland brachte. Die Veranlagung, seine Erlebnisse in einer dramatisierenden Geschichte zu erzählen und die eigene Bedeutung darin zu heben, prägt Schliemann also von Anfang an als Person.
War das ein Aspekt seine Persönlichkeit oder eine bewusste Strategie, eine Art Marketing für die eigene Person?
Ich glaube es ist einfach Teil seiner Persönlichkeit – gegenüber seiner eigenen Schwester hätte er ja kein Marketing betreiben müssen. Diese Briefe waren nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, er adressiert hier also kein großes Publikum und schmückt die Geschichte trotzdem aus. Das gilt übrigens auch für seine Tagebücher, die sicher ebenfalls nicht für eine Publikation vorgesehen waren.
In dieser Beschreibung lassen sich gut Parallelen zu unserer heutigen Welt ziehen, in der die Selbstdarstellung in Sozialen Medien zum zentralen Motiv geworden ist …
Ich bin mir sicher, dass Schliemann heute die Sozialen Medien offensiv nutzen würde. Er würde jeden Fund auf Twitter und Instagram posten und auf allen Plattformen präsent sein. Er war ja zu seiner Zeit auch ein Medienjunkie, der die damaligen Mittel optimal genutzt hat – er hatte zum Beispiel Exklusivverträge mit Zeitungen, von der „Augsburger Allgemeinen“ bis zur Londoner „Times“. Er veröffentlichte wöchentliche Kolumnen und telegrafierte jeden Fund sofort in die Metropolen seiner Zeit. Insofern glaube ich, dass es da durchaus Parallelen gibt und Schliemann in der heutigen Medienwelt sehr gut zurechtkäme.
Schliemann war eine faszinierende Persönlichkeit – wird die Ausstellung über ihn eine Biografische oder eine Archäologische sein?
Die Ausstellung wird „Schliemanns Welten“ heißen und ich glaube diese Fähigkeit, sich tatsächlich in unterschiedlichen Welten zu bewegen, die kann man nur in einer ganzheitlichen Ausstellung darstellen, die sein gesamtes Leben in den Blick nimmt. Das Leben Schliemanns ist im kollektiven Gedächtnis eine stringente, zielstrebige Geschichte: Als Junge bekam er Georg Ludwig Jerrers „Weltgeschichte für Kinder“ geschenkt und aus der Lektüre entstand der Lebenstraum, das antike Troja zu finden, den er dann als Erwachsener verwirklichte. Aber auch hier hat Schliemann die Geschichte in seiner Biographie selbst „frisiert“ – tatsächlich sind Troja und die Archäologie eine relativ späte Entwicklung in seinem Leben. Er hat vorher bereits unglaublich viel erlebt und gemacht. Erst wenn wir dieses vorherige Leben kennen, verstehen wir seinen Weg als Archäologe. Unsere Ausstellung wird das Schliemann-Bild daher erheblich erweitern, so wie es in dieser Form bisher noch nie durch eine Ausstellung geschehen ist. Der erste Teil der Ausstellung widmet sich der Zeit vor der Archäologie und der zweite Teil behandelt den Archäologen Schliemann.
Die Ausstellung zeigt uns also Schliemanns wahre Geschichte – wie verlief diese in groben Zügen?
Ein früher Punkt in der Geschichte ist der erwähnte Schiffbruch vor Texel. Schliemann geht anschließend nach Amsterdam und macht dort eine Kaufmannslehre. Die Zeit nutzt er außerdem, um Sprachen zu lernen. Er beginnt mit einer für das damalige Amsterdam sicherlich ungewöhnlichen Sprache, nämlich Russisch. Das verschafft ihm aber direkt einen Vorteil für seine Karriere und er geht bald für seine Firma nach Sankt Petersburg, wo er heimisch wird. Russland wird in dieser Zeit sein Zuhause, er schreibt das auch in seinen Briefen. Er gründet dort eine Familie und wird ein angesehener Kaufmann. Wie er sein Geschäft dort betreibt, ist auch interessant. Er wird sehr schnell reich, im Grunde ist es die Geschichte vom Tellerwäscher zum Millionär – wie schafft er das? Er schreibt in dieser Zeit an seinen Vater, er sei der erfolgreichste und durchtriebenste Geschäftsmann in Sankt Petersburg. Und das stimmt, er beherrscht das geschäftliche Handwerk, erkennt Chancen und nutzt sie teilweise ohne Skrupel, wenn es dem Geschäft dient. Auch das werden wir in der Ausstellung beleuchten: Schliemann handelt in Russland mit Indigo und Salpeter, beides Materialien, die für einen bevorstehenden Krieg gebraucht werden. Er wird zu einem großen Profiteur des Krim-Krieges, weil er durch seine Sprachkenntnisse und sein gutes Netzwerk viele Informationen früh erhält und diesen Vorteil ausnutzt. Ein anderes Beispiel ist Schliemanns Gold: Alle denken dabei an den „Schatz des Priamos“, aber Schliemanns Gold stammt eigentlich aus Sacramento. Dort steigt er um 1850, auf der Höhe des „Gold Rush“, als Investor ein und verdoppelt sein Vermögen. Wo Heinrich Schliemann hinkommt, findet er sich zurecht, ob ganz egal ob in Russland oder im Wilden Westen der USA. Das zeigt, wie er schon immer die Welt als seinen Handlungsraum betrachtet hat und eigentlich ein Kosmopolit ist, der mit nationalen Kriterien gar nicht greifbar ist. Das trifft übrigens auf viele große Forscher und Personen des 19. Jahrhunderts zu, ganz im Gegensatz zu dem vom Nationalismus geprägten Bild, das wir von dieser Epoche haben.
Wie wird aus dem erfolgreichen Kaufmann Schliemann dann der Archäologe von Weltruhm?
Schliemann stellt irgendwann fest: Der Kaufmannsberuf ödet ihn an, er will etwas Neues machen und seinem Entdeckerdrang nachgehen. Geld hat er genug, er sucht jetzt neue Betätigungsfelder, um sich zu beweisen. Er macht zunächst Abenteuerreisen, die trotz seines Wohlstandes immer entbehrungsreich und unter vollem Einsatz verlaufen. Die Reisen führen ihn nach China und Japan und das werden wir in der Ausstellung wunderbar darstellen können. Kaum jemand sieht Schliemann als Asienforscher, aber er reist dorthin und veröffentlicht direkt ein Buch über seine Reise, in dem er detailliert Objekte und Zeremonien der bereisten Regionen beschreibt. Wir zitieren in der Ausstellung aus diesem Buch und können das Beschriebene auch zeigen, denn in den Sammlungen des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst befinden sich ganz ähnliche Objekte aus späteren Expeditionen. Und erst nach diesen Reisen geht Schliemann dann nach Paris, wo er unter anderem Altertumswissenschaft studiert, sich mit Homer beschäftigt und die Idee entwickelt, Troja zu finden. Das ist auch der Einschnitt in der Ausstellung, wo wir von der James-Simon-Galerie ins Neue Museum wechseln und vom biografischen in den archäologischen Teil.
Das ist in der Tat eine beeindruckende, sehr kosmopolitische Biografie …
Ja, Schliemann ist, wie viele seiner Zeitgenossen, mit nationalen Kriterien nicht zu fassen. Er war Mecklenburger, dann russischer Staatsbürger und er stirbt in Italien als Amerikaner. Beigesetzt wird er in Athen, wo der amerikanische Gesandte in der Grabrede sagt, Schliemann sei ein wahrhafter amerikanischer Pionier gewesen. Und noch heute sagen unsere Kolleginnen und Kollegen im Puschkin-Museum in Moskau, wo sich Schliemanns „Schatz des Priamos“ heute befindet, er sei die ideale Figur, um Russland und Deutschland zu verbinden.
Ein gutes Stichwort: Der so genannte „Schatz des Priamos“ befindet sich seit 1945 als Kriegsbeute in Russland. Schon zu Schliemanns Lebenszeiten war dieser Goldschatz Auslöser eines Skandals, weil er ihn heimlich aus der Türkei ausgeführt hatte. Wird das Thema Provenienzen und Rückgaben auch in der Ausstellung behandelt werden?
Die Ausstellung wird alle Fund- und Erwerbungsumstände sowie die heutige Situation behandeln. Es ist natürlich sehr bedauerlich, dass wir bis heute noch zu keiner Verständigung mit Russland über die kriegsbedingt verlagerten Objekte gekommen sind – da muss dringend etwas passieren. Am Beispiel des „Priamos-Schatzes“, der übrigens fälschlicherweise dem sagenhaften trojanischen König Priamos zugeordnet wurde und tatsächlich aus einer viel früheren Epoche stammt, sehen wir, wie groß das weltweite Interesse an den Objekten ist. Viele Menschen wollen diese Objekte sehen und dass sie das Puschkin-Museum nicht verlassen können, ist sehr schade – zumal sie dort ohne jeglichen Kontext ziemlich einsam dastehen. Da ist die Politik gefordert, Lösungen zu finden. Wir als Archäologen und Museumsleute können nur gemeinsame Projekte machen und Zeichen der Verständigung setzen. Die russischen Kolleginnen und Kollegen beziehen uns in die Forschungsarbeit immer mit ein, aber die Öffentlichkeit bleibt dabei bislang außen vor.
Es gibt auch die Forderung aus der Türkei, den Schatz zurück nach Troja zu bringen …
Diese Forderung hat aus meiner Sicht keine Grundlage. Es ging hier nie um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Staaten, denn Schliemann hat seine Grabungen als Privatperson durchgeführt. Durch seine finanzielle Unabhängigkeit war er nicht auf die Unterstützung des deutschen Staates angewiesen. Abgesehen davon, dass ohne Heinrich Schliemann die Bedeutung von Troja heute bei weitem nicht so groß wäre, hat es auch eine ordentliche gerichtliche Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Osmanischen Reich gegeben. Dabei ist es zu einer Einigung gekommen, Schliemann hat dem osmanischen Staat Geld gezahlt – übrigens deutlich mehr als gerichtlich vereinbart –, und die Rechte an dem Schatz auf diese Weise erworben. Das ist also ein abgeschlossenes Verfahren und auf dieser Basis hat Schliemann über den Schatz verfügt und ihn dem deutschen Volk geschenkt. Ich bin überzeugt wir sollten über diese juristischen Fragen hinaus das Ganze als Möglichkeit sehen, Kooperationen und Austausch zu pflegen. Wir haben neben den Kontakten nach Russland auch gute Verbindungen zu unseren Kolleginnen und Kollegen in der Türkei und können uns langfristig viele Formen der Kooperation vorstellen.
Der „Schatz des Priamos“ bleibt vorerst noch unerreichbar – welche archäologischen Objekte werden wir denn in der Ausstellung zu sehen bekommen?
Unser wichtigster Leihgeber ist Griechenland. Schliemann wird immer mit Troja in Verbindung gebracht, aber er hat ebenso bedeutende Entdeckungen in Griechenland gemacht und die zentralen Stätten der mykenischen Kultur ausgegraben. Er hat die mykenische Kultur erstmals benannt und ist somit der einzige Archäologe, dem es gelang, gleich zwei antike Hochkulturen zu entdecken und zu definieren – und zwar so, dass seine Erkenntnisse teilweise noch heute Gültigkeit besitzen. Er hat die zentralen Elemente der mykenischen Kultur ausgegraben: die Schachtgräber von Mykene, das Kuppelgrabvon Orchomenos und die antike Stadt Tiryns. Die Objekte, die dabei gefunden wurden, sind bis heute die Spitzenstücke der griechischen Archäologie. Wir werden Dank der Großzügigkeit des griechischen Nationalmuseums viele davon zeigen können, darunter viele Goldobjekte, Grabschmuck, aber auch Schwerter und Alltagsgegenstände.
Letzte Frage: Was hat Sie persönlich bei der Beschäftigung mit dem Thema am meisten fasziniert oder überrascht?
Am meisten überrascht hat mich, wie die Beschäftigung mit Schliemann vor der Archäologie mir geholfen hat, den Archäologen Schliemann besser zu verstehen. Es ist sehr spannend, wie aus dem Kaufmann ein Forscher wird und wie er sich mehr und mehr der wissenschaftlichen Denkweise verschreibt. Am Anfang dominiert noch das kaufmännische Denken, jede Ausgrabung muss in einem angemessenen Verhältnis von Aufwand und Erfolg stehen. Später geht es dann immer mehr um die Vertiefung des Verständnisses – er nimmt sich mehr Zeit, holt sich gute Leute hinzu und wendet immer die modernsten Methoden der Grabungstechnik an. Am Ende ist aus dem Kaufmann Schliemann tatsächlich der große Archäologe geworden, als den wir ihn noch heute kennen.
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